Ein wiederkehrendes Motiv in Johny Nemers Fotografie: Die schwer zu fassende Figur symbolisiert Wendepunkte, Hoffnung und Liebe, Sehnsucht und Schmerz.

 

 

«Ich sehe mit der Kamera»

Vom Libanon in die Schweiz, vom Kameramann zum Betreuer: Johny Nemer beschreibt sein Leben als einen Wanderweg mit ständig wechselnden Ausblicken. Seine Erinnerungen und Gefühle verarbeitet er in Landschafts- oder Portraitfotografie – ohne Kompromisse. «Ich fotografiere nur noch für mich selbst».

 

Als 13-jähriger Flüchtling kommt Johny Nemer aus dem Libanon ins Kinderdorf Pestalozzi in Trogen, «vom Bürgerkrieg direkt ins Paradies.» Dass er im kleinen Appenzell Ausserrhoden mit der ganzen Welt aufwachsen darf, ist eine prägende Erfahrung, die ihn bis heute stolz macht. Hier erlernt er auch das Handwerk der analogen Fotografie. Ein Lehrer bringt ihm bei, Bilder im selbst gebauten Fotolabor zu entwickeln und ermutigt ihn, Regeln zu brechen.

 

Johnys Interesse am Visuellen und an der Musik legen die Weichen für seinen Werdegang. Nemer lässt sich zum Ton-Operateur ausbilden und produziert als Kameramann Videos für die aufstrebende Schweizer Hip-Hop-Szene. Über den öffentlich-rechtlichen italienischen Sender Rai2 erhält er die Gelegenheit, seine alte Heimat zu bereisen, um das vom Bürgerkrieg zerstörte Beirut in einer Fotoreportage zu dokumentieren.

 

Mit der Geburt seiner Tochter entschliesst sich Nemer, die TV-Branche zu verlassen und beruflich neue Wege einzuschlagen. Er wird Filialleiter einer Videothek-Kette und arbeitet in der Druckereibranche. Heute begleitet er Menschen im geschützten Arbeitsmarkt. Die Fotografie bleibt während all den Jahren fester Bestandteil seiner Biografie: «Ich sehe sozusagen mit der Kamera, immer und überall – ich bin die Kamera.»

 

Auf den Auslöser drückt er im Herzen, erst dann gelangen die Bilder in seinen Kopf und bleiben oft dort, wie in einem gedanklichen Archiv. Es sind sehr persönliche Fotos, «die niemandem gefallen wollen». Johny Nemer portraitiert Menschen, die sein Interesse wecken und zu denen er eine Verbindung herstellen kann. Die Kunstfotografie ist sein Ventil, um Emotionen zu verarbeiten.

 

Seine aktuellen Arbeiten publiziert er laufend auf Instagram. Unter dem Titel «Tagebuch» sind verschiedene Fotoserien auf seiner Website zu sehen. Bis Ende 2021 will er drei Projekte fertigstellen: eine Portrait-Serie, eine Arbeit über seine Vergangenheit und eine politische Serie. «Es handelt sich um Herzensangelegenheiten ohne kommerzielles Interesse. Aus diesem Grund habe ich Anfragen für Ausstellungen bisher immer abgelehnt.»

 

Das Portrait über Johny Nemer entstand im April 2020. johnynehmer.ch

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